Talking Allgemeine & Vergleichende Literaturwissenschaft
Peter Szondi – Poetik, Einbildungskraft,
Kritik und die Signifikanz der Theoriearbeit
– im Gespräch mit Achim Geisenhanslüke
ACHIM GEISENHANSLÜKE (Goethe Universität Frankfurt) ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt in (Literatur-)-Theorie und ein ausgewiesener Kenner der Frankfurter Schule und der Werke von Peter Szondi, dem Begründer der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Achim Geisenhanslüke hat über 100 Artikel und 25 Monografien zu verschiedenen Themen und Bereichen der AVL veröffentlicht, von der Bedeutung der Poetik in der Moderne bis hin zu einer Neulektüre von Kants ästhetischer Philosophie, die auch die Parameter postkolonialer Lesarten erkundet. Seit 2024 erforscht Achim Geisenhanslüke im Rahmen des Reinhart Koselleck-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die Bedeutungen der Poetiken des Rhythmus.
Foto von Raphaela Deffner an der Universität Augsburg / Bearbeitung und Gestaltung von D.M. P. an der Universität Bayreuth – © Deutsches Urheberrecht. Das Foto darf für den persönlichen Gebrauch kostenlos verwendet werden. Darüber hinaus bedürfen die Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und jede Art der Verwertung der schriftlichen Zustimmung des jeweiligen Rechteinhabers. Wenn Sie dieses Foto verwenden möchten, wenden Sie sich bitte an die interviewte Person bzw. den Koautor.
MARIAM POPAL: Herr Geisenhanslüke – eigentlich bin ich derzeit in einer tiefen Sprachlosigkeit verfangen – in sämtlichen Sprachen. Das ist vermutlich etwas anderes als zu schweigen. Oder jemandem nach dem Mund reden – was wiederum dem Nachsprechen ähnelt und wahrscheinlich auch eine gewisse Form von Sprachlosigkeit ausdrückt – vielleicht eine unfreiwillige? Dabei haben sich mir zwei Ansätze, zwei Themen, aufgetan. Vielleicht lässt sich daraus eine entscheidende Frage zum Sprechen formulieren?
Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Bereitschaft zu diesem Gespräch, ich freue mich sehr darüber. Nicht zuletzt, weil ich denke, dass die potenziellen Möglichkeiten der AVL und das Denken Peter Szondis, die Sie beides in Ihren Ansätzen verfolgen, für kritisches Denken und Theorien wichtig sind – auf einer ‚erdenden‘ Ebene, im Sinne der Erde und im Sinne von ‚geerdet‘ vielleicht. Ich muss also zum einen an einen, ja fast, Aufruf von Judith Butler denken, in dem sie sich auf die Arbeit von Denise Ferreira de Silva und auf die Macht der Einbildungskraft (imagination) beruft und auf unbestimmte und unbestimmbare Weise argumentiert, diese anzustrengen, um zu einer anderen Welt zu gelangen. In dem Text nimmt Judith Butler auch Bezug auf Franz Kafkas Erzählung Zur Frage der Gesetze ([1920] 1931), die so wunderbar, beteiligt, unbeteiligt eigentlich Michel Foucaults These der panoptischen Selbstregulierung zu thematisieren scheint und sie bejaht und doch negiert – die Macht der Macht also bestätigend in Frage stellt. Zum anderen lese ich gerade Hannah Arendts Text Freundschaft in finsteren Zeiten. [1] Ich finde ihn sehr inspirierend und wohltuend. Es handelt sich um ihre Rede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises 1959 in Hamburg, meiner Fluchtheimat gewissermaßen und die vieler anderer Menschen – der Stadt mit dem Beinamen ‚das Tor zur Welt‘.
Darin spricht Hannah Arendt von der Dankbarkeit und der Verpflichtung gegenüber der Welt, die eine Ehrung mit sich bringt. „Die Welt“, sagt sie, „liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – vielmehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde.“ [2]) Wie schaurig scheinen ihre Worte immer noch zu passen. Ist Freundschaft [3] etwas, woran wir uns besonders festhalten müssen in diesen Zeiten? Immer in finsteren Zeiten? Auch sie liegt zwischen den Menschen. Ist sie vielleicht eine Möglichkeit, aus der die Einbildungskraft ihre Hoffnung auf eine andere Welt schöpfen kann? Im Kleinen wie im Großen? Was meinen Sie?
Wie würden Sie diesen Zusammenhang zwischen (literarischer) Einbildungskraft, Welt und Freundschaft sehen? Wenn es ihn denn gibt…Und wie würden Sie die AVL darin einordnen?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Freundschaft – ein zentraler Begriff schon bei Aristoteles. In der Rhetorik unterscheidet er zwischen Liebe und Freundschaft: Liebe heißt, dem anderen wünschen, was für gut gehalten wird, Freundschaft lieben und wieder geliebt werden. Da gibt es ein Moment der Gegenseitigkeit, was Aristoteles dazu führt, Freundschaft höher zu schätzen als Liebe. Gegenseitigkeit meint dann auch Gleichheit, allerdings Gleichheit unter Männern: Frauen, Kinder, Sklaven haben da keinen Anteil. Das ist dann anders bei Foucault. Foucaults Von der Freundschaft als Lebensweise (1984), das war ein wichtiger Text, v.a. auch im Kontext der Debatten um Sexualität, der Anerkennung von Homosexualität: Lieben und geliebt werden in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, da wurde klar, dass Gleichheit ausgeweitet werden muss gegenüber einem verstaubten Begriff von allein cis-normativ ausgerichteter Sexualität.
Nun kann die philia in der Philologie und Philosophie ebenfalls als Freundschaft ausgelegt werden, Freundschaft oder Geneigtheit zum Wort: dem anderen geneigt sein, auch in der Form der Schrift, die Lesende ja auch als eine Art der Begegnung erfahren. Für mich, in den Lektüren von Foucault und Nietzsche, von Hegel und Hölderlin oder von Kant und Freud, war das auch immer von besonderer Bedeutung: Die Zuwendung zum Anderen. Ich denke, dass das Hannah Arendt in ähnlicher Weise in ihrer Lektüre der Literatur festhielt und aus der sie den Blick, so gebildet durch das Wort, auf die Welt richtete, auf der Suche und mit der Sorge um ihre Umpolung.
Im jetzigen Augenblick, wo die Demokratie in Gefahr ist, denke ich daher eher über Begriffe wie Gleichheit nach. Demokratie heißt ja Gleichheit von allen, ohne Abstriche.
Freiheit war immer der zentrale Begriff der ästhetischen Programme seit Kant, aber wie sieht es mit der Gleichheit aus, die ja der zweite zentrale Begriff der Demokratie ist? Wie ist das Verhältnis des politischen Begriffs der Gleichheit zu ästhetischen Fragen?
Das interessiert mich gerade sehr: Das Gemeinsame, nicht die Differenzen, Anerkennung von Differenz in der Gemeinschaft. Der Geschmack der Freiheit [4], einer meiner letzten Publikationen, würde ich daher gerne einen Geschmack der Gleichheit hinzufügen. Ich hoffe, dass sich das irgendwann realisieren lässt. Wir sind gerade in Frankfurt dabei, ein Graduiertenkolleg zum Thema „Ästhetik der Demokratie“ aufzubauen, das im nächsten Sommer beginnen – und dann der richtige Ort für diese Diskussionen wird. Im Augenblick scheint es an den Universitäten ja immer wichtiger zu werden, politischer zu werden, also vor allem auch über die Demokratie nachzudenken, mit allen Unwägbarkeiten, die damit verbunden sein mögen. Ich denke, das wäre eine wichtige Orientierung, die auch in Judith Butlers Beitrag angerufen zu sein scheint.
MARIAM POPAL: Freiheit und Gleichheit, Differenz, Gleichheit – und Ästhetik. Sehr spannend – ist Gleichheit nicht sogar grundlegend für Freiheit?
Die AVL hat selbst in ungleichen, noch finsteren Zeiten Gestalt angenommen. Ist vielleicht sogar aus ihnen hervorgegangen, auf eine widerständige und in die Zukunft blickende Art, in gewisser Weise ein bisschen vielleicht wie um Kafkas oben erwähnte Erzählung zu performen und ihre Möglichkeit aufzuzeigen.?
Mein Eindruck von der AVL ist manchmal, dass ihr Begründer irgendwie in eine Krise der Vergessenheit geraten ist. Es gibt natürlich das renommierte Peter-Szondi-Institut. Und es gibt einige, sehr anspruchsvolle Arbeiten über Peter Szondi. Zugleich gibt es auch noch weitere Fachbezeichnungen wie die Komparatistik oder die Vergleichende Literaturwissenschaft. Der Anspruch Peter Szondis an die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ist dabei ein dezidiert kritisches und politisches Denken, das notwendig und aus Verantwortung heraus und zugleich selbstverständlich mit dem Ästhetischen verbunden bleibt – hoch aktuell also – so wichtig für eine Bildung, die um ein demokratisches Verständnis bemüht ist – und nicht ganz unähnlich dem Verständnis der Comparative Literture in den USA, mit dem es ideell verwandt scheint. Dabei hat Szondi nicht nur das Fach in dieser Weise begründet, sondern auch den extrem negativ konnotierten Begriff der ‚Hermeneutik‘ für die Literaturwissenschaft neu und nach wie vor interessant, geprägt. Manchmal ist da auch ein heroisierender, idolisierender Ton um den Namen Peter Szondi, aber manchmal auch einer, der ihn zu othern scheint – manchmal in ein und demselben Text – vielleicht spiegelt das die Ökonomie der Marginalisierung wider?
Andererseits hat die AVL ein sehr anspruchsvolles Selbstverständnis und es wird ihr ein elitäres Gepräge nachgesagt. Es besteht also, in meinen Augen, eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Namen Peter Szondis, und seinem Andenken und Denken, die eher in den Hintergrund gedrängt wirken.
Wer war Peter Szondi? Wäre es möglich ihn zu beschreiben, ohne in fixierende Bilder zu verfallen? Was wollte Peter Szondi, der Begründer des Faches, mit der AVL bewirken? Wie definiert sich die AVL? Was macht das Besondere des Denkens Peter Szondis aus? Wie aktuell ist es für die Gegenwart und warum?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Peter Szondi zu beschreiben, das ist nicht einfach, weil er eine sehr widersprüchliche Figur gewesen zu sein scheint. Und da gibt es natürlich auch eine beträchtliche historische Distanz: Das Institut in Berlin wurde 1965 gegründet, das ist nun zufälligerweise auch mein Geburtsjahr. Ich kann mich dem auch nur indirekt und mit zeitlicher Diskrepanz annähern.
Ich würde als erstes sagen: Er war in der akademischen Situation der 60er Jahre ein Außenseiter seines Faches, und das institutionell auf doppelte Art und Weise: ein Außenseiter in der Germanistik, die ja immer noch bestimmt war von Leuten, die durch den Nationalsozialismus kompromittiert waren. Szondis Versuch war es da, mit erheblichen politischen Komplikationen, die Germanistik durch die AVL zu internationalisieren und aus dieser nationalistischen Befangenheit zu befreien.
Und dann waren da die literaturwissenschaftlichen Kreise aus Konstanz, die im Unterschied zu dem Einzelkämpfer Szondi erfolgreiche Netzwerker waren (und die mit Hans Robert Jauß, wie wir heute wissen, viel tiefer verstrickt waren in den Nationalsozialismus als damals gedacht). Bei der Poetik- und Hermeneutikgruppe, die Jauß gegründet hat, war Szondi eher ein Beobachter.
Damals standen mehrere Optionen für die AVL zur Disposition, und auch hier verkörpert Szondi eher einen Außenseiter, einen Alleinkämpfer, was posthum wieder zu zahlreichen Idealisierungen geführt haben mag.
Diese Außenseiterposition haben einige beschrieben, die ihn noch gekannt haben, so etwa Eberhard Lämmert oder Gert Mattenklott, die beide auf ihn gefolgt sind am Peter-Szondi-Institut am Hüttenweg. Werner Hamacher [5] hat mir mal gesagt: Das wars dann mit der Berliner AVL, aber ich habe das Institut auch noch in den achtziger Jahren als einen sehr lebendigen Ort erfahren.
Szondi, das war seine große historische Leistung auf der Ebene der Institution, hat eben diese Insel der AVL in Berlin gegründet, daher wohl auch die Mystifizierungen und Idealisierungen seiner Figur. Ein Seminar für AVL und zu der Zeit – das war einmalig in Deutschland.
Elitär ist das sicherlich gewesen: Szondi hatte einen hohen Anspruch an sich, den er auf andere übertragen hat. Nach dem, was wir aus den Überlieferungen der Seminare wissen, scheint es nicht immer einfach mit ihm gewesen zu sein. Es gibt etwa diesen legendären Fragebogen mit 50 Fragen [6], die die Studierenden zur Zwischenprüfung beantworten mussten, das hat niemand geschafft, auch die besten nicht. Und Szondi hat hart bewertet, viele abgeschreckt und nur wenige zugelassen. Es war nie geplant, dass die AVL so viel Zulauf erhält, wie es dann in den achtziger Jahren der Fall war. Sie blieb trotzdem aber etwas Besonderes. Schon die räumliche Situation in der Villa am Hüttenweg: An der U-Bahn schieden sich die Wege: Die meisten gingen zur Rostlaube, zur Philosophie, Romanistik, Germanistik etc. an die Freie Universität, die AVLer*innen durch den Park in die andere Richtung zum Institut der AVL am Hüttenweg. Symbolisch war der Weg der AVL so bereits als anders markiert. Und darauf waren wir als Studierende auch immer besonders stolz. Die AVL vertrat anders als die anderen philologischen Fächer eben keine ‚Nationalphilologie‘, sondern setzte sich grundsätzlich für die Vielzahl und das Nebeneinander von Sprachen ein – und tut dies nach wie vor.
MARIAM POPAL: Die AVL wird oft als Comparative Literature übersetzt oder mit ihr – verglichen. Und es gibt tatsächlich einige auch historische Überschneidungen, die auch mit Peter Szondi in Verbindung gebracht werden, so z.B. seine Bezüge zur Yale University und zu Figuren wie René Wellek, einem der bekanntesten, philologisch ausgerichteten Literaturwissenschaftler. Was oft dabei aus dem Blickfeld gerät, ist, dass die Comparative Literature in den USA von geflüchteten Europäer*innen, meist aus marginalisierten Zusammenhängen, in dieser Art begründet wurde, und transkulturell und transnational Gestalt annahm. Insofern beschreibt Peter Szondis Anschluss vielleicht eher eine transnationale Verbindung, die transatlantisch weiter bestand hatte, – und sich dann vielleicht verlor? Der Begriff ‚Europäisch‘ in diesem anderen Kontext und dann im Kontext der USA verdeckt zugleich Ausgrenzungserfahrungen – gleichzeitig wird auch hier von ‚Eurozentrismus‘ gesprochen, ich bezweifle ob das so zutreffend sein kann und es sich nicht eher um ein claiming Europe handelt, stellt es doch auch vor dem Hintergrund dominanter Diskurse oft einen Kampf dar, wer in Europa zu ‚Europa‘ gezählt wurde, und wird. Und signifiziert Peter Szondi und seine Vision von der AVL als Fach nicht eine transnationale Literaturwissenschaft, auch über Europa hinaus?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Szondi war natürlich zuerst einmal durch und durch Europäer. Sein erfolgreichstes Buch, Theorie des modernen Dramas [7], ist ganz auf Europa fokussiert. Und Europa heißt Heterogenität und Vielfalt, unterschiedliche Sprachen und Literaturen. Für die AVL relevant waren damals Deutsch, Englisch, Französisch, daher auch die Notwendigkeit, Übersetzungsklausuren zu bestehen, wo schon damals einige gescheitert sind. In Frankfurt haben wir dieses Programm mehr oder weniger übernommen, nur dass das mit dem Französischen nicht mehr ganz funktioniert.
Das war Szondis Welt.
Inzwischen hat sich das natürlich geändert: Warum nicht auch andere Sprachen, und nicht auch außer-europäische? Aus Europa heraus ist das ja nur ein Schritt, die Anerkennung auch des Nicht-Europäischen, anderer Sprachen und Kulturen. Das ist bei Szondi und der AVL tatsächlich schon so angelegt, und sich so auch weiterentwickelt. Insofern: Europa, ja, aber auch der Blick über Europa hinaus.
Und die USA: Ja, das war Yale, und Geoffrey H. Hartman. Da spielt das Jüdische natürlich eine zentrale Rolle. In Deutschland war das anders. Die Möglichkeiten, oder Unmöglichkeiten waren andere. Daher auch Szondis Solidarität mit Adorno. Aber als Szondi sich nach Frankfurt beworben hat, da hieß es: Noch so einen wie Adorno können wir hier nicht brauchen. Das war nicht einfach damals, sich als jüdischer Intellektueller an der Universität zu etablieren. Das ist Szondi gelungen, aber eben um den Preis des Außenseitertums und der Einsamkeit.
Und dann kam nach Szondi mit Derrida die Dekonstruktion in die USA-, und das ist dann eine ganz andere Geschichte wie der Historiker Gregory Jones-Katz [8] gezeigt hat. Die French Theory ist eine Erfindung und ein Import aus den USA, und bei diesem transatlantischen Transport ist viel von dem verlorengegangen, was Szondi wichtig war, v.a. die Philologie. Er beklagt, dass sie links liegen gelassen wird. Wie er 1970 in einem Brief über Derrida, den er selbst an sein Institut eingeladen hatte, schreibt:
„An unserem Seminar dagegen macht sich eine Esoterik à la Derrida breit (ich sage es ungern, weil ich Derrida sehr gern habe), man phantasiert über Texte wie Liszt über Bachsche Themen. Die Philologie steht derweilen in der Ecke“. [9]
Szondi schätzte Derrida als Menschen, hat das aber auch als Konkurrenzsituation empfunden. Er hat am eigenen Institut gesehen, was für eine Faszination von Derrida ausging, und dessen internationaler Erfolg hat das ja auch bestätigt. Dabei ist Derrida in Frankreich selbst ebenfalls immer ein akademischer Außenseiter geblieben, das verbindet beide. Es wäre spannend gewesen, zu sehen, wie Szondi den Erfolg der Dekonstruktion beurteilt hätte, wie er Derridas Celan-Buch gefunden hätte usw. Mir scheint, dass Szondi auch nach dem Erfolg der Dekonstruktion viel von der Frische behalten hat, die von ihm ausgegangen ist.
MARIAM POPAL: Im Grunde nimmt Peter Szondi mit der AVL etwas vorweg, was Gayatrai Chakravorty Spivak, die vielleicht bekannteste Stimme der Comparative Literature in den USA, und zugleich eine der bekanntesten Stimmen der Postcolonial Studies, vor mehr als 20 Jahren, und nun nochmal in einer Neuauflage ihres Buches Death of a Discipline ([2003] 2023) gefordert hat, nämlich die Beschäftigung mit Sprachen, vielen Sprachen der Welt in ihrem ‚original‘ und mit „linguistic rigor“ [10], ohne sie auf fixierte Deutungen und Bedeutungen zu reduzieren, weil Sprachen sich natürlich ständig verändern und unendlich in Bewegung sind. Zugleich wird in diesen kritischen Zugängen die Theorie, auch Übersetzung, in einem umfassenden, allgemeinen, und dekonstruktiven Sinne betont. Ist das nicht das Allgemeine, das Szondi beschreibt und das er zwischen den Sprachen und in ihnen untereinander unendlich sucht, vielleicht, durch die Literatur und die Philologie und kritische, nicht machtaffine Theoretisierungen? Da scheinen sie sich ganz nah zu sein.
Szondi hat die ‚Hermeneutik‘ neu definiert, und für die Literaturwissenschaft begründet, die Philologie betont, aber die Dekonstruktion, die er ebenfalls mit dem Fach verbunden hat – auch wenn er selbst, wie Sie erwähnen, davon weniger überzeugt schien, hat er deshalb nicht ausgeschlossen, was souverän und leidenschaftlich wirkt, und für seine visionäre Sicht spricht. Was lässt sich durch Theorie mehr sagen? Was bedeutet Theorie für Peter Szondi? Wäre es möglich Peter Szondis Verständnis von Theorie zu umreißen?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Als Szondi nach Berlin berufen wurde, hat er das Seminar für Vergleichende Literaturwissenschaft umbenennen lassen in Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der Brief dazu lautet:
„Zur Begründung meines Antrags möchte ich darauf hinweisen, dass die bislang gebrauchte Bezeichnung ‚Vergleichende Literaturwissenschaft’ seit Jahrzehnten nur noch einem Teilgebiet der Disziplin gerecht wird. Zur historischen Untersuchung der faktischen Zusammenhänge zwischen den Nationalliteraturen, die einst die einzige Aufgabe des Faches bildete, ist längst eine systematische, aufs Ganze der Literatur zielende theoretische Bemühung hinzugekommen, die nicht dem Vergleich von Unterschieden, sondern der Erforschung des Gemeinsamen gilt. Theorie der Literatur, Gattungspoetik, Geschichte der Literaturbetrachtung, Literatursoziologie sind nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der lange rein historisch orientierten französischen Schule der Komparatistik neben der Lehre von den Beziehungen zwischen den Nationalliteraturen gleichwertige Teilgebiete der Disziplin geworden. Sie verlangen eine Ergänzung in der Bezeichnung des Faches, da der Ausdruck ‚vergleichend’ der hinter die Aufteilung in Nationalliteraturen zurückgehenden Intention nicht entspricht. [11]
Das ist ein ganzes Programm: Theorie, aus den USA, Yale, wie aus Frankreich, Paris, und sonst Gattungspoetik, Literatursoziologie. Kein Wort von der Psychoanalyse.
Da vermischen sich eher traditionelle Konzeptionen von Literaturwissenschaft und ein neuer Theorieanspruch, den Szondi allerdings ganz auf eine literarische Hermeneutik ausgerichtet hat, die er von Friedrich Schleiermacher herleiten wollte. Szondi war zuallererst Philologe, aus der sehr konservativen Züricher Schule der Stilkritik von Emil Staiger. Das mag heute manchmal etwas fremd anmuten. Aber der neue Anspruch war klar: Theorie, Theorie, Theorie. Und das ist in der AVL auch so geblieben.
Damit aber hat Szondi natürlich gleichzeitig gespalten: Was denn nun, AVL, Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft? Auch dies ist bis heute nicht ganz klar: Es gibt innerhalb der AVL immer noch die, die sich eher als vergleichende Literaturwissenschaftler sehen, und die, die eher auf Theorie setzen. Und da bin ich natürlich eher auf der Berliner Seite. Benjamin, Lacan, Derrida, das alles war sehr prominent in dieser Zeit. Ich habe später versucht, Foucault mit auf die Tagesordnung zu setzen. Szondi hat ganz auf Theorie gesetzt, von da aus komparatistisch gearbeitet, und ich finde noch immer, dass das der eigentlich spannende Weg ist. Und man sieht ja auch: Die Sachen, die er geschrieben hat, sind gut gealtert, immer noch lesbar und aktuell.
MARIAM POPAL: In seinem Buch On the Way to Theory, das 2024 erschienen ist, betont Lawrence Grossberg auch die Bedeutung weltpolitischer Ereignisse, des Zweiten Weltkriegs, der Shoah und antikolonialer Kontexte für die Herausbildung des Verständnisses von ‚Theorie‘ und wie diese an die Universitäten herangetragen wurde als Orte, an denen solche progressiven, epistemologischen Kämpfe in engagierter Form Gestalt annahmen. Peter Szondi ist ein Literaturwissenschaftler und Denker, der ebenfalls vor dem Hintergrund ähnlicher Fragestellungen und ihrer epistemischen Neueinordnung spricht, lehrt, und seine Ideen entwickelt.
Welches waren die ‚Kernelemente‘ oder die wichtigsten Züge des Faches, oder der Welt, die Peter Szondis Überlegungen zur AVL begleitet haben, historisch meine ich, aber auch inhaltlich und diskursiv?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Für Szondi war sicherlich die Erfahrung des Jüdischen zentral. Er war ja mit seiner Familie in Ungarn interniert und konnte dann nicht zuletzt durch die Berühmtheit seines Vaters Leopold Szondi, ein bekannter Psychoanalytiker, in die Schweiz ausreisen. Die Freundschaft zu Paul Celan ist durch das Jüdische begründet. Und wenn konservative Theoretiker wie Nietzsche behauptet hatten, das Judentum und das Tragische schlössen sich aus, dann hat Szondi mit seinen Schriften über das Tragische das Gegenteil bewiesen, nämlich dass jüdische Philolog*innen durchaus etwas über das Tragische sagen können. Die Konkurrenz zum Jüdischen war schon zu Nietzsches Zeit gegeben: Die Arbeiten von Jacob Bernays, die Nietzsche gut kannte, hat er in seiner Tragödienschrift ignoriert. In dieser Tradition jüdischer Gelehrt*innen steht auch Szondi noch ein Stück weit.
Daher auch die Bedeutung Friedrich Hölderlins für Szondi. Hölderlin, den Heidegger als ‚den deutschen Dichter der Dichter‘ bezeichnet hat, aus der nationalen Ecke herauszuholen, war ein auch politisches Anliegen Szondis. Das schlägt sich alles in den Gegenständen seiner Schriften nieder, bis hin zu den Celan-Studien, die er dann nicht mehr vollenden konnte. Politisch in dem Sinne, dass das durch das Philologische vermittelt ist: Schreiben gegen eine national ausgerichtete Germanistik, jenseits von Ideologie. Theorie als politische Praxis, darüber haben Louis Althusser und später auch Jacques Derrida nachgedacht, und natürlich auch Foucault, der in der Archäologie des Wissens (1969) weg wollte von der Ideologie. Und das ist eben der Kampf, den auch Celan ausgefochten hat. Ein jüdischer Intellektueller wie Szondi und ein jüdischer Dichter wie Celan mussten sich da erst einmal einen Freiraum schaffen, den es so nicht gab. Und bei beiden endete es auch tragisch. Klar ist aber: Theorie war und ist von Anfang an politisch.
MARIAM POPAL: Das ist ziemlich erschütternd. Es stellt für mich eine Form des Silencing dar. Ein Rede- und Diskursverbot, der Versuch jüdische Erfahrungen mit Marginalisierung und auch epistemischer Gewalt und Gewaltstrukturen von der Erwähnung der Tragik zu trennen. Infam. Komisch, dass dies bis heute nicht aufgearbeitet zu sein scheint in der deutschen Wissenschaftsgeschichte oder intellektuellen Geschichte, als hätte es keine Rolle gespielt und würde es keine Rolle spielen. Mir sind jedenfalls keine kritischen Schriften dazu haufenweise oder auch nur vereinzelt in die Hände gefallen. Recherchen und Analysen zu diesen Formen der Ausgrenzung und Gewalt auch auf der Wissenschaftsebene sollten nachgeholt werden. Dafür ist es nie zu spät, oder nicht? Es wäre auch wichtig zu sehen, wie sich das etwa weiter gehalten und hat und welche Gestalten es angenommen hat, etwa auch bezüglich anderer BIPoC – oder auch wie Wissensbereiche quasi wieder Stück für Stück freigekämpft wurden von jüdischen Intellektuellen – und werden? Auch wie solche Strukturen von rassialisierter Dominanz weltweit weitergetragen werden, sich mit bereits bestehenden Verhältnissen vermischen und sich gesellschaftspolitisch und diskursiv widerspiegeln. Allein darin zeigt sich der wichtige Zusammenhang zwischen Theorie, politischem Denken und dem Betreiben und Produzieren von Wissen (und Unwissen), ist das nicht so?
Es gibt auch Dissens, wenn nicht gar einen Machtkampf darüber, ob ‚Theorie‘ überhaupt für die literaturwissenschaftliche Arbeit von Bedeutung ist. Vielleicht gehört diese Diskussion in gewisser Weise auch zu dieser Problematik? Zuweilen, tauchen auch Denkentwürfe auf, die sich als dezidiert untheoretisch verstehen wollen und in denen die eigenen Prämissen unreflektiert zu bleiben scheinen. Kann es eine Welt und eine Wissenschaft ohne Theorie geben? Wie soll das möglich sein?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ja, gerade in den USA scheint die Stimme der Kritik schon länger wie verstummt. Rita Felski hat das 2015 deutlich als ein Ende zum Ausdruck gebracht und daran mitgewirkt: Statt Theorie die Grenzen der Kritik anerkennen und ein unmittelbares sinnliches Verhältnis zum Text gewinnen, das ist ihre Forderung. Dabei ist das letztlich nichts anderes als ein Einknicken vor ökonomischen Zwängen, die die akademische Landschaft beherrschen. Das hat auch Spivak in ihrem Buch An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012) kritisch thematisiert und Lesen als Widerstand gegen die Ökonomie begriffen. Da beruft sie sich auf eine Tradition, die von Szondi tatsächlich nicht so weit weg ist, und nur auf einer anderen theoretischen Grundlage als Szondi zu stehen scheint. Auch da ergeben sich aber Gemeinsamkeiten.
Szondi war dieses Moment der Kritik, als philologisches, jedenfalls immer wichtig, und eine Wissenschaft ohne Theorie war für ihn in der Tat nicht vorstellbar. Er verortet sich da ganz klar in der Tradition der Kritischen Theorie, insbesondere von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Und auch in der älteren hermeneutischen Tradition, bei Schleiermacher, bedeutet Philologie zuallererst Textkritik. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich auch die Rede vom Ende der Theorie, wie Eagleton und andere sie prominent gemacht haben. Ohne Theorie keine AVL. Und AVL heißt auch: mehr als nur das Englische, das Eagleton da ja vor allem im Auge hat. Als bekennender Marxist steht Eagleton ja auch für eine Theorie ein, von der sich Foucault und andere klar verabschieden wollten. Und das ist immer noch eine Frage: Wie auf Marx reagieren, wie auf Gramsci? Derrida und Spivak sind da eigene Wege gegangen.
MARIAM POPAL: Ja, spannende Wege, die jeweils ihre eigene Berechtigung haben und unterschiedliche Dynamiken von Schrift, Text und Denken schaffen. Wertvolle Geschenke zum Weiterdenken. Mein Eindruck ist, dass Peter Szondis Theoriearbeit auch eine gewisse unterminierende Wirkung hat, ob beabsichtigt oder nicht, da er zunächst bestimmte Verständnisse auf der intellektuellen, wie auch der soziopolitischen Ebene abbaut, und gleichzeitig Neues schaffen will. Vor diesem Hintergrund konnte ich nicht anders als ihn als einen ‚postkolonialen Denker‘ und Theoretiker und seine Arbeiten als im höchsten Maße dekoloniale Ansätze zu verstehen. Er spricht aus einer anderen Position, die auch von Erfahrungen der Ausgrenzung geprägt sind. Insofern halte ich ihn für hoch aktuell und interessant in Verbindung zum gegenwärtigen post- und dekolonialen Denken hin.
Wie sehen Sie das? Gibt es solche Anteile in seiner Arbeit, die neugelesen werden müssten, die durchaus mit anderen, aktuellen solcher kritischen Linien in Verbindung stehen?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ich würde ihn auf jeden Fall als einen Theoretiker sehen, der die Literaturwissenschaft öffnen wollte für alles, was zuvor ausgeschlossen war. Aus dem Kontext, aus dem er gesprochen hat, war das für ihn natürlich zunächst einmal das Jüdische. In solchen Bewegungen können Parallelen gesehen werden. Ähnlich verhält es sich bei Auerbach, der aufgrund seines türkischen Exils auch Erfahrungen gemacht hat, die ihn mit anderen Kulturräumen in Verbindung gebracht haben. Von Auerbach aus ist ja ein deutlicher Bezug zum Postkolonialen oder Dekolonialen hergestellt, wie es etwa Edward W. Said praktiziert hat. Dabei war Auerbach ebenso wie Szondi zunächst einmal ein hervorragender Philologe und voll ausgebildeter Romanist mit einer Idee von Weltliteratur, die um das Zentrum Dante gebaut war. Beide waren durch und durch geprägt vom europäischen Kanon. Die Forderung der AVL damals war auch sprachpolitisch klar: Deutsch, Englisch, Französisch. Für andere Sprachen war da zunächst kein Platz. Aber wie bereits angedeutet: Der Ansatz war offen, und es ist nur ein Schritt bis zur Einbeziehung anderer Sprachen und Kulturen. Die Reichweite der AVL als theoriegeleitetes und vergleichendes Fach ist ja tendenziell unbegrenzt, warum also nicht auch die Einbeziehung dekolonialer Ansätze? Wichtiger als eine feste Position zu beziehen, scheint mir da zu sein, an der Öffnung des Faches, die Szondi vorbereitet hat, weiterzuarbeiten.
MARIAM POPAL: Haben Peter Szondis Theorieansätze nicht auch eine dekonstruktive Lesart, weil sie radikale Brüche beinhalten, während sie mit dem ‚Alten‘ arbeiten, also eine Kritik aus dem Inhalt und Lektüre der zentralen Texte selbst ergründen? Zum einen, weil er zwar auf der einen Seite eine kritische Lesart entwickelt, auch wenn er grundlegenden Ansichten in der Hermeneutik folgt (und nicht folgt), zum anderen aber eine neue Hermeneutik vielleicht nicht begründen, aber sichtbar machen will, die er gleichzeitig für eine uralte, aber übersehene Form hält, und die er aus der Literatur selbst und ihrer ‚Arbeitsweise‘ herausliest und antizipiert. Dies ist für mich etwa der Fall, wenn er davon spricht, dass jedes Verständnis einer Stelle am Text eine Entscheidung darstellt, und damit selbst eine grammatische Entscheidung, bereits eine interpretierende Lesart und ein Eingreifen, also in den Text (und damit Kontext?), darstellt – und das vor allem mit dem poetischen Moment im Text, über das Literarische im engen Sinne hinaus, in Verbindung bringt?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ich denke, wie bereits angedeutet, dass Szondi mit der Dekonstruktion an sich nicht so viel anfangen konnte. Er sucht nach einer Verbindung von Literaturwissenschaft und Linguistik, rekurriert auf Roman Jakobsons Definition der poetischen Funktion der Sprache, auf die Theorie der Metapher etc., aber das immer im Rahmen einer philologisch ausgerichteten literarischen Hermeneutik. Szondi war damit kein Zeichentheoretiker, er hat die Linguistik zur Kenntnis genommen, unternimmt aber nicht den Schritt in die Semiologie. Das unterscheidet ihn von den französischen Texttheorien, bei aller Nähe zu ihnen. Er knüpft da stark an Schleiermachers Begriff der grammatischen Auslegung an, will aber keine Grammatologie ausbilden wie Derrida.
Grammatische Auslegung bei Schleiermacher bedeutet Ausrichtung an der Sprache, und das kann Szondi gut mit Benjamins Rede von der Intention auf Sprache verbinden. Unter Sprache versteht er dann aber etwas anderes als Derrida oder Julia Kristeva, kein System der Zeichen, sondern eben in der hermeneutischen Tradition Sprache als Trägerin von historischer Bedeutung. Dieser Aspekt ist in den siebziger Jahren immer stärker kritisiert worden, aber ich denke, dass Szondis spezifische Idee einer literarischen Hermeneutik und die Bedeutung des Historischen noch immer einige Argumente für sich hat.
Nach Szondis Tod 1971 begann der internationale Höhenflug der Dekonstruktion an Fahrt aufzunehmen, er selbst verkörpert da eine andere Richtung, finde ich. Spuren dieses Konflikts sind noch bei Werner Hamacher, der seine Hölderlinarbeit in Berlin einreicht und schon da den Weg von der literarischen Hermeneutik Szondis zu einer Dekonstruktion im Sinne Derridas beschreitet, zu finden. Und Hamacher hatte auch vor allem in den USA eine große Bedeutung als Vermittler zwischen der sehr deutschen Tradition der Hermeneutik und der französisch-US-amerikanischen Tradition der Dekonstruktion. Aber auch Hamacher arbeitet dann wie Szondi viel zu Hölderlin und Celan, ebenso wie später Winfried Menninghaus. Das steht in einer Tradition der AVL nach Szondi und in dieser Tradition würde ich auch meine eigenen Arbeiten sehen wollen, ohne mich jetzt mit Szondi, Hamacher und Menninghaus vergleichen zu wollen. Aber die jüngsten Arbeiten zu Hölderlin, die ich veröffentlich habe [12], stehen noch in der Tradition einer Hölderlin-Lektüre, wie Szondi sie erst möglich gemacht hat. Und gegen Heidegger.
Ich wäre da eher an einer Korrektur der Dekonstruktion durch Szondis Idee einer literarischen Hermeneutik interessiert, und das unter Einbeziehung von kritischen Stimmen wie Henri Meschonnic, der vom Rhythmus her denkt. Das scheint mir mit Szondi durchaus vermittelbar zu sein. An diesen Dingen bin ich jedenfalls aktuell sehr interessiert: eine Poetik des Diskurses im kritischen Rückgriff auf Foucault, die sich mit Szondis Idee einer literarischen Hermeneutik wie mit Meschonnics Kritik des Rhythmus verknüpfen ließe.
MARIAM POPAL: Auch hier scheinen für mich Verbindungen zu feministischen, queeren, de- und postkolonialen Ansätzen gegeben, da die Frage des Subjekts und der Geschichte angesprochen sind. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das ausformen und welche Verbindungen sie sehen und herstellen werden. Es fällt auf, dass Peter Szondi eine Lücke in der Kunst der Auslegung herausgreift, dezidiert auf der Suche nach dieser literarischen Hermeneutik. Anhand anderer Quellen macht er deutlich, dass die Kunst der poetischen Auslegung einer ‚eigenen Logik‘ folgt. Anstatt die ‚Hermeneutik‘ als Auslegungskunst und -lehre zu verallgemeinern und die Literatur darunter als Textgattung zu subsumieren, scheint mir, macht Peter Szondi das ganz umgekehrt. Er spricht von einer literarischen Hermeneutik, die für sich als eine bestimmte Kunstfertigkeit herausgearbeitet werden muss, und die Licht auf andere Hermeneutiken werfen kann, da Texte an sich, etwa historische, juristische und dann erst recht philosophische, dem poetischen Moment nicht entkommen können?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ja, literarische Hermeneutik, das war das Programm Szondis. Das heißt eine Hermeneutik, die sich an der Besonderheit der Literatur, des Textes, ausrichtet als historischem Gegenstand. Das richtet sich insbesondere gegen die an den deutschen Universitäten sehr einflussreiche philosophische Hermeneutik, also insbesondere gegen Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Was Heidegger mit literarischen Texten, insbesondere mit denen von Hölderlin, gemacht hat, war ein Gewaltakt. Hölderlin als der Dichter der Deutschen – Hölderlin, der sich historisch an Spinoza und Rousseau orientiert, da ist schon zu sehen, wie sehr Heidegger Hölderlin vereinnahmt. Gadamer schließt daran an und verpackt das nur viel verträglicher. Gadamer war international sehr erfolgreich, und er besetzt international das Feld der Hermeneutik, so dass bei der Hermeneutik etwa in den USA, aber auch in Frankreich oder Italien, immer zuerst an Gadamer gedacht wird, während Szondi verdrängt scheint. Und das heißt dann auch eine Inanspruchnahme der Literatur durch die Philosophie. Die Probleme bleiben auch in Gadamers Hermeneutik bestehen. Deshalb hat sich Szondi gegen diese universal angelegte, philosophische Hermeneutik zur Wehr gesetzt. Eine solche Kritik hat die Dekonstruktion dann fortgeführt, und das ist auch gut so.
Von dieser philosophischen Hermeneutik wollte Szondi als Philologe weg hin zu einer Hermeneutik, die von der Literatur gedacht wird. Er war da näher dran an Literaturwissenschaftler*innen wie Jean Starobinski, den er auch sehr früh nach Berlin eingeladen hat.
Letzten Endes ist das immer ein Kampf gegen Heidegger, an den die Dekonstruktion ja leider– wenn auch kritisch – anknüpft. Gadamer steht noch ganz in dieser Tradition Heideggers, dagegen opponiert Szondi, wie auch Adorno. Und vor diesem Hintergrund muss seine Forderung nach einer genuin literarischen Hermeneutik immer noch ernstgenommen werden, nicht nur als Theorie, sondern auch als Politik – und die als Kritik hinführt zum literarischen Text, der eben anders ist als ein philosophischer, theologischer oder juristischer.
MARIAM POPAL: Gibt es auch eine psychoanalytische Lesart und Kritik im Werk Peter Szondis?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Es ist interessant zu beobachten, dass die Psychoanalyse keine Rolle für Szondi zu spielen scheint. Das kann natürlich sehr gut mit den Mitteln der Psychoanalyse selbst erklärt werden: Sein Vater war ein berühmter Psychoanalytiker – Schicksalsanalyse das Stichwort –, davon will sich der Sohn natürlich abgrenzen. Anders als in Frankreich mit Freud und Lacan finden sich bei Szondi kaum Spuren der Psychoanalyse. Wenn er mit Schleiermacher von der psychologischen Auslegung spricht, dann meint er damit das Moment des Individuellen und Subjektiven, das die Dekonstruktion aus den Geisteswissenschaften ja auszutreiben versucht hat.
Szondi sieht eher die Soziologie und die Geschichte als die Psychoanalyse. Dabei wäre die Psychoanalyse, jedenfalls bestimmte Aspekte der Psychoanalyse, mit seinem Begriff der literarischen Hermeneutik durchaus vereinbar. In Das Schibboleth der Psychoanalyse [13]) bin ich dem nachgegangen und habe versucht das aufzuzeigen: die Psychoanalyse nicht als Doktrin, sondern selbst als eine literarische Praxis zu begreifen. Als Literaturwissenschaftler ist Freud wie nach ihm Lacan und andere hoch problematisch. Aber als Schriftsteller operiert er an der Schnittstelle von Psychoanalyse und Literatur und wird so wieder interessant. Unheimliche Nähen habe ich das genannt, zwischen Psychoanalyse und Literatur, wenn alles gut wird, erscheint die Publikation noch in diesem Jahr.
MARIAM POPAL: Das Schibboleth der Psychoanalyse ist jedenfalls sehr lesenswert. Auch das Thema der Affekte als übersehene Verbindungslinien zwischen Literatur und Psychoanalyse greifen Sie hier auf. Das war für mich besonders interessant. Dann dürfen wir mit Spannung Ihr neues Buch erwarten! Wie würden Sie die Lage, den Raum und den Ort der AVL heute beschreiben?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Schwierig. Institutionell hat sich die AVL in Deutschland nie durchsetzen können, und ist ein kleines Fach geblieben. Die Idee mit der AVL in den sechziger Jahren war eine ganz andere, nämlich Literaturwissenschaft von nationalen Grenzen zu befreien – und zwar bereits in der Schulbildung. Sprach- und Literaturunterricht sollten getrennt, Literatur in mehreren Sprachen unterrichtet werden, damals eben Deutsch, Französisch, Englisch. Das hat sich nicht durchgesetzt, und so ist die AVL ein Nischenfach geblieben. Schade. Dabei ist das Potential des Faches noch immer riesig. Die Idee in den sechziger Jahren war, dass die AVL alle Literaturwissenschaften umfasst und in ein Reflexionsverhältnis zueinander bringt. Daher hätte sie auch einfach nur: Literaturwissenschaft heißen können. Allgemein und Vergleichend kommt nur hinzu, weil es noch als ‚national‘ begriffene Philologien gibt. Wird das weggenommen, dann wären alle AVLer*innen. Das war die Utopie, die sich nicht realisiert hat. Ich finde die Idee aber immer noch sympathisch. Auf die Frage, was ich mache, antworte ich daher meist einfach: Literaturwissenschaft. Zu erklären, was AVL heißt, wird schnell kompliziert, und im Grunde trifft das auch das Gemeinsame bei allem Trennenden zu anderen Philologien: Literaturwissenschaftler*in sein.
MARIAM POPAL: Von einer ‚Nationalphilologie‘ auszugehen ist wohl auch kaum mehr zeitgemäß – falls es das je gewesen ist. In vielen Ländern der Welt hat sich diese monophilologische Idee einer ‚Nation‘ glücklicherweise gar nicht erst durchsetzen können. Das ist doch in gewisser Weise eine ganz schlimme, andere Form Armut? Und sicherlich von Gewalt. Wie kann ihrer Meinung nach, die AVL als Fach gestärkt und mehr in den Mittelpunkt der ‚Literaturwissenschaft‘ gerückt werden (auch vielleicht als troublemaker)? Und wäre dies überhaupt wünschenswert? Was müsste geschehen oder sich ändern?
Ich denke, dass das Wissen über die AVL in diesem klassischen Sinne und was sie bedeutet und visioniert hat eventuell weitgehend in Vergessenheit geraten – oder verdrängt wurde von anderen Entwicklungen, fast so, als hätte es sie nie gegeben.
Die Schriften von Peter Szondi zum Beispiel scheinen eher ein Schattendasein zu führen. Das hat wohl auch seine Gründe, wenn mein Eindruck richtig sein sollte, aber inzwischen hat sich auch einiges geändert.
Wäre es jetzt eher möglich, die AVL im Szondischen Sinne auszuweiten, ohne sie auszuhöhlen? Wäre es nicht notwendig dies gerade jetzt zu tun?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Auf der einen Seite kann die AVL mit der Rolle des elitären Außenseiters gut leben – solange das Geld dafür reicht –, was zusehends immer weniger der Fall zu sein scheint – aber im Ernst: Grundsätzlich ist die Idee der AVL so angelegt, dass sie ausgeweitet werden kann, wobei da spezifische Probleme von Übersetzungsfragen in den Mittelpunkt rücken. Lektürefähigkeit auch in Fremdsprachen war ja die Forderung der AVL, da gibt es einen tendenziellen Konflikt mit der Hegemonie des Anglophonen, die sich inzwischen durchgesetzt hat.
Die AVL kann sich den Entwicklungen der Zeit natürlich nicht verschließen und muss sich öffnen für andere Ansätze, diesseits und jenseits Europas. Die Frage ist dann nur, ob sie noch Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft heißen kann, mit dem Theorieanspruch, den sie verkörpert und der theoretischen Unbegrenztheit ihrer Gegenstände. Die Modularisierung der Studiengänge etc. hat ja eine Auflösung disziplinärer Grenzen zu Folge, und da stellt sich die Frage, ob diesem Trend entsprochen oder eher auf disziplinäre Grenzen gesetzt werden soll – paradox für die AVL, einerseits behauptet sie, allumfassend zu sein, andererseits ist sie ein Fach, das sich von Nationalphilologien unterscheiden möchte und damit auf disziplinäre Eigenständigkeit pocht.
Es ist also schwierig: Die AVL ist ein kleines Fach geblieben, muss auf ihrer Eigenständigkeit als Disziplin bestehen, drängt aber von sich aus dahin, Grenzen aufzulösen. Daher ist es wichtig, dass die AVL weder nur ein Teil der Germanistik noch einer global ausgerichteten Cultural Studies wird.
In Deutschland gibt es neben den Einheiten der AVL, die in größere Institute eingegliedert sind, nur drei eigenständige AVL-Institute, ich bin froh, an einem dieser drei zu sein, denn so ist klar, dass die AVL nicht bloß eine Seitenabteilung anderer Fächer ist. Sondern etwas anderes. Am einfachsten wäre es, wenn es nur eine fächerübergreifende Literaturwissenschaft gäbe, dann würden alle, Germanist*innen, Anglist*innen, Romanist*innen, AVLer*innen, etc. an einem Tisch sitzen, und die AVL wäre nicht mehr am Rande, sondern im Zentrum der Literaturwissenschaft.
MARIAM POPAL: Das scheint nochmal eine andere Wende einzuleiten, die AVL und die Literaturwissenschaft zu gestalten – und die Universität ein Stück weit neu zu denken. Der Ansatz würde Platz machen für die unterschiedlichsten Literaturen der Welt, mit der AVL als eine Art theoriegeleitete Axe und Drehangel (mit der) Literatur, Textualität zu denken, die sich selbst beständig reflektieren und erneuern würde, und so ihrem Anspruch in dynamischer, unendlicher Weise gerecht werden könnte. Vielleicht kann sich eine praktisch orientierte Konfiguration ergeben, die einen solchen Ansatz zu verwirklichen ermöglicht? Das wäre, denke ich, eine schöne Richtung, was die AVL angeht, und auch weitere ‚nationalphilologisch‘, oder auch nur monosprachlich ausgerichtete Literaturwissenschaften – aber auch was die Gestaltung der Area Studies angeht…!
Ich würde in diesem Zusammenhang gern auf Ihre eigenen Arbeiten zu sprechen kommen, die bereits eine Art theoriegeleitete Grundlagenforschung vielleicht für genau eine solche Formierung von Literaturwissenschaft mit der AVL als eine Art Drehachse aufzustellen scheinen – zunächst einmal im Rahmen europäischen Denkens, welches sie gleichzeitig kritisch gegenlesen, – so lese ich das zumindest –.
Dass ich mich freue, Sie für dieses Gespräch gewonnen zu haben, ist zugleich entsprechend auch eine dilemmatische Freude, da Sie schon zu so vielen Themenbereichen so viel gearbeitet haben, dass es unmöglich wäre, Sie nicht zu fragen, und gleichzeitig ist es so schwer festzulegen und sich zu entscheiden, in welche Richtung die Fragen überhaupt gehen sollen und wo anzusetzen wäre – und letztlich auch, ob die Fragen nicht immer neben dem liegen würden, neben so vielen un/möglichen, was von Bedeutung wäre, und ich also nicht immer in gewisser Weise eine Parallele zum ‚Eigentlichen‘ erzeugen würde. Aber riskieren wir es.
Ich beginne also mit dem, was mir aufgefallen ist, und hoffe, dass das Ihre Zustimmung findet.
Was mir an Ihren Arbeiten vor allem auffällt und was sie besonders spannend macht, ist, dass Sie sich auf eine Bandbreite sehr unterschiedlicher theoretischer Felder beziehen, von ‚der Antike‘ bis zur Gegenwart, mit einem Schwerpunkt vor allem auf ‚Europa‘, diese aber immer, so jedenfalls meine Lesart, in einer kritischen, mehrfach gebrochenen Lektüre zusammenführen und damit sehr grundlegende und zugleich neue Setzungen schaffen – auch wenn Sie nicht explizit feministische Fragestellungen verfolgen, sind auch solche in Ihren Arbeiten erkennbar. Daher finde ich Ihre Ansätze auch für andere kritische Felder relevant, für queere und feministische, postkoloniale und dekoloniale Ansätze – und gleichzeitig lesen Sie immer mit einem Auge die Literatur mit und beziehen sie mit ein, so dass eine Art Zwiegespräch zwischen den philosophischen und den literarischen Arbeiten, aber auch psychoanalytischen Ansätzen zu entstehen scheint. Ich finde, das ermöglicht es, die theoretischen Überlegungen auch durch die Literatur gegenzulesen, und mein Eindruck ist, dass Sie das tun. Verstehe ich Sie richtig? Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben? Und wo, in welchen auch theoretischen Zusammenhängen würden Sie sie verorten?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ich denke, das hört sich gut an! Theorie nicht als Applikation einer Vorlage auf die Literatur, sondern Literatur als Instanz der Kritik auch für die Theorie. Damit habe ich bei Foucault angefangen: Literatur als Gegendiskurs zu den Anstrengungen der Diskursanalyse. Das war das Thema in Foucault und die Literatur [14] Ich habe am Berliner Institut eine Menge Kritik einstecken müssen für diesen Ansatz. Vor allem schien Foucault ein Stein des Anstoßes zu sein. Das überzog den üblich gewordenen Rahmen. Warum denn Foucault und die Literatur, warum nicht Benjamin oder Derrida, Foucault schien gar nicht zur Debatte zu stehen. Aber das Thema beschäftigt mich noch immer. Ich habe versucht es auch in den Arbeiten zu Literatur und Infamie [15] und aktuell in den Überlegungen zu Diskurs und Rhythmus weiterzudenken. Denn Literatur scheint quer zu diskursanalytischem Denken zu stehen und es aus verschiedenen Richtungen herauszufordern und zu konterkarieren. Durch die aktuelle DFG-Förderung bin ich nun glücklicherweise in die Lage versetzt, das in den nächsten fünf Jahren systematisch anzugehen: eine Poetik des Rhythmus als Versuch, der Theorie eine eigene Wendung zu geben.
Ähnlich ist das aber auch bei Freud: Nicht Freuds Literaturinterpretationen, sondern Freuds Schreiben zwischen Wissenschaft und Literatur in den Blick nehmen, das schien mir immer interessanter. Oder bei Hegel: Dass in der Phänomenologie des Geistes neben dem titelgebenden Geist noch eine zweite Heldin parat steht – die Sprache –, gibt die Möglichkeit zu einer kritischen Lektüre Hegels, die von der Literatur aus her operiert.[16] Und die dann bei Montaigne, Hölderlin und Nietzsche landet als Alternativen zu Hegels Erfahrungsbegriff. Das steht alles noch sehr in der Linie eines mehr traditionellen AVL-Verständnisses, und vermutlich ist es auch ein Auslaufmodell, wenn zeitgenössische Positionen beachtet werden, die von der Literatur selbst immer weiter weggehen. Aber damit bilde ich mir ein, zumindest der Idee der AVL nahegeblieben zu sein, die Szondi erst ermöglicht hat.
MARIAM POPAL: Die Idee scheint aber nicht an Aktualität eingebüßt zu haben – ‚das Traditionelle‘, das ein Nischendasein scheinbar verbracht hat, bisher, ist vielleicht der neue Blick auf die alte Literatur? Ein anderer Blick? Sie schreiben auch, dass Foucault sich der Literatur nicht angenommen, sie eher ausgeklammert habe aus seinen Überlegungen. Vielleicht weil er sie nicht einordnen konnte?
Inwiefern kann die Literatur eine Instanz der Kritik für die Theorie sein? Und wie ist das auf praktischer Ebene erfahrbar?
Hat das nicht einen dekonstruktiven Zug? Insofern, als dass Derrida etwas ganz Ähnliches mit philosophischen Texten macht? Auch Derrida ist ja immer eher bemüht sich von der Literatur abzugrenzen, und dabei immer ‚literarischer‘ zu werden?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ja, das hat sicher auch einen dekonstruktiven Zug. Mir geht es darum, die theoretischen Ansätze von Foucault oder Freud von innen her zu sprengen, das heißt von dem aus, was sie über Literatur sagen. Und dann die Literatur gegen sie wenden. Das ist, wenn Sie so wollen ein dekonstruktiver Zug. Ich würde da mit Szondi aber eher einfach von Kritik sprechen. Und das ist eine Kritik, die jemand wie Foucault selbst nahelegt, weil er ja zumindest in den sechziger Jahren, zeitgleich zu Szondi, selbst über Literatur als Gegendiskurs nachdenkt. Und das fand ich immer spannender als den Diskurs selbst. Im Gegendiskurs bleibt das politisch Widerständige enthalten, was auch bei Szondi immer mitgedacht ist. Derrida hat das auf eine andere Weise gemacht als Foucault, und Meschonnic wiederum anders als die beiden. Aber was sie verbindet, ist das, was mit Szondi als der Blick auf das Ganze der Literatur genannt werden kann, die Ausgangsvoraussetzung, die Literatur durch die Theorie in den Blick zu bekommen – und sie auf sie antworten zu lassen. Hier sehe ich auch zwischen unterschiedlichen Theorien Gemeinsamkeiten und nicht nur Unterschiede.
MARIAM POPAL: Es wäre vielleicht möglich zu sagen, dass die Philosophie im klassischen Sinne ein gewisses Maß an Selbstbezüglichkeit verfolgt, indem sie das Begehren nach Wissen kultiviert, während Theorie eine Form der Reflexion darstellt, die die philosophischen Anteile einer (oft tradierten und vorausgesetzten) Denkart und ihre Prämissen selbst sichtbar macht und in Frage stellt? Wo würden Sie die historischen und/oder theoretischen Anfänge von ‚Theorie‘ räumlich und zeitlich verorten? Und wo würden Sie Unterschiede sehen zwischen ‚dem Philosophischen‘ und ‚dem Theoretischen‘? Sie gehen in einigen weiteren ihrer Publikationen, etwa in Die Wahrheit in der Literatur (2015), Poetik: Eine literaturtheoretische Einführung (2018) oder Der feste Buchstabe (2021), nicht nur darauf ein, sondern setzen sie auch anders zusammen, indem Sie klassische Verständnisse von Poetik etwa mit zeitgenössischen und dekonstruktiven Modellen auf eine Weise verbinden, die einen Anschluss zu suchen und zu schaffen scheinen. Warum ist Ihnen dieser Anschluss so wichtig? Oder (inwiefern) lese ich Sie falsch?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Ich beziehe mich immer auf den etwas langweiligen und überstrapazierten Begriff der Poetik, wie Szondi das im Übrigen auch tut. Poetik als Theorie und Praxis der Dichtung, Poesie, Literatur, wie immer das zu nennen wäre. Das hat, so würde ich das sehen, in der Antike angefangen, nicht allein bei Aristoteles in der Philosophie, sondern schon bei Gorgias in der Sophistik. Und das zieht sich durch die gesamte Textgeschichte, die wir kennen. Da spielt die Philosophie natürlich eine zentrale Rolle. Aber nicht allein die Philosophie bedeutet Theorie. Sondern die Literatur selbst, die Poetik, die Rhetorik. Insofern hat die Philosophie wichtige Impulse gegeben, aber auch mit der Tendenz, andere Ansätze zu verdrängen. Da plädiere ich für einen Blick, der den Absolutheitsanspruch philosophischer Deutungen, wenn er denn erhoben wird, in Frage stellt.
Die neuen Literaturtheorien der sechziger Jahre und die neueren dekolonialen Ansätze sind da weitere Episoden in einer langen Geschichte, und wichtig scheint mir zu sein, das historische Verständnis dafür nicht zu verlieren.
Es geht darum, unter dem Leitbegriff der Poetik unterschiedliche Ansätze zu vereinen, nicht als Synthese zu einer Metatheorie, sondern als freundschaftliches Nebeneinander. Die Poetik also als gemeinsames Dach für die literarische Hermeneutik Szondis, für Derridas Dekonstruktion, Meschonnics Rhythmusanalyse, Foucaults Diskurstheorie, und, und, – und was noch kommen kann.
MARIAM POPAL: Sie betonen Diskurs und Theorie in ihren Arbeiten und haben einen Foucaultischen Ansatz dabei, der machtkritisch bleibt. – Ist da nicht auch ein gewisser Widerspruch darin? Gibt es nicht einen entscheidenden Unterschied zwischen Diskurs und Theorie? Ich kann etwas mit der Verbindung von Theorie und Repräsentation oder besser Repräsentationskritik, anfangen, und Diskurs und Repräsentation ganz nach der ‚Schulart‘ Stuart Halls. Aber wie ist die Relation zwischen Diskurs und Theorie? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Ist das nicht ein eher asymmetrisches Verhältnis? Die Theorie fordert den Diskurs heraus, geht über ihn hinaus… überdenkt ihn?
Und da ist auch eine enorme Menge an Überlegungen in ihren Arbeiten, die entlang der Kritischen Theorie liegen etwa, die besonders wichtig für Peter Szondi und ich denke sein Verständnis des Faches zu sein schien. In einem ihrer weiteren Publikationen Masken des Selbst (2006) zum Beispiel ist mein Eindruck, dass Sie logozentrische Strukturen in den Ansätzen der Dialektik der Aufklärung (1944) ebenfalls hinterfragen, und diese mit der Literatur gegenlesen – ohne dabei Adornos und Horkheimers Ansätze zu verletzen.
Wie sehr kann die Literatur ‚ihre Eigenständigkeit‘ aufrechterhalten, hat sie eine solche? – wenn sie als Theorie herangezogen wird, wie es im Aufsatz von Judith Butler der Fall zu sein scheint. Spiegelt sie die Einbildungskraft wider? Und haben alle einen Zugang zum Literarischen? Wie kann Literatur in finsteren Zeiten als Freund*in oder in Freundschaft wirken? Was würde eine solche Theorie umfassen?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Der Dialektik der Aufklärung habe ich mich immer verpflichtet gefühlt – der Kritischen Theorie in ihren neueren, eher sozialpolitischen Ausprägungen, nicht immer. Im Streit zwischen Jürgen Habermas und Foucault also ganz klar für Foucault – aber eben auch hier ein kritischer Ansatz: Foucaults Diskursbegriff ist theoretisch wackelig. Seine Themen daher nicht vom Begriff des Diskurses, sondern der Literatur angehen, das steht im Raum. Diskurs heißt für Foucault ja die Gesamtheit aller Aussagen, egal ob sie philosophisch, wissenschaftlich oder literarisch sind. Daraus sticht die Philologie insoweit heraus, als dass es in ihr um die Besonderheit des literarischen Diskurses geht, – die wiederum in sämtliche ‚Diskurse‘ einwirkt.
Und Literatur scheint ganz wichtig als Freund*in, wenn wir an diesem Bild festhalten wollen, weil Literatur mehr darf als andere Diskursformen. Manche Literatur kann sicherlich nicht aus persönlicher Zugeneigtheit gelesen werden, nicht als Freund*in, trotzdem kann auch solche Literatur einen Moment beinhalten, der fesselt, weil etwas im Medium der Literatur zum Ausdruck gebracht wird, was sonst so nicht gesagt werden kann. Auch nach Derrida ist die Literatur eine Institution, die alles äußern darf. Das kann auch negative Affekte umfassen wie Hass, Scham und Ekel, Paranoia und Gewalt. Das gilt für die antike Tragödie ebenso wie für den modernen Roman. Und es ist bei Gustave Flaubert ebenso da wie bei Thomas Pynchon und Toni Morrison. Da stellt sich wieder die Frage des literarischen Diskurses, wie sie sich Foucault präsentiert hat. Und in diesem Sinne ist die Literatur in der Tat die Freund*in der Philologie, wie Werner Hamacher das in seinen Überlegungen dargestellt hat: „Dichtung ist die erste Philologie.“ [17] Damit knüpft er eigentlich unmittelbar an Szondi an.
MARIAM POPAL: Würden Sie uns noch ein paar weitere Details zu Ihrer derzeitigen Arbeit verraten? – Und was Sie am meisten dabei ärgert (und warum)?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Im Augenblick arbeite ich wie bereits angedeutet an einer Poetik des Rhythmus im Anschluss an die Arbeiten Henri Meschonnics, aber auch Szondis Idee des Ganzen der Literatur und Foucaults Diskurstheorie spielen da eine Rolle. Das heißt, es geht um das Potential einer Poetik, die sich an der Literatur ausrichtet, als historischer Diskursform im Sinne Foucaults auf der einen Seite, zugleich aber als individualisierte Rede, Rede hier als Organisation der Bewegung des Sprechens, v.a. im Gedicht, etwa bei Celan.
Und was mich am meisten ärgert: Wie immer eigentlich, zunächst Heideggers Denken, das am Rhythmus vorbeigeht und dadurch das eigentliche Thema seiner Philosophie, die Zeit, aus dem Blick verliert, Hölderlin verzerrt und allerlei Unfug anrichtet. Aber mehr noch natürlich aktuell: Die totale Durchökonomisierung der Universität, die für kleine Fächer wie die AVL bald keinen Platz mehr zulassen will. Die Idee des Studiums hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark verändert, und das nicht unbedingt zum Guten. Schon Begriffe wie „Leistungspunkte“ oder „Module“ deuten diese Ökonomisierung ja an. Was damit verlorenzugehen droht, ist eben der Begriff der Kritik, für den die AVL einsteht.
MARIAM POPAL: Vielen Dank für Ihre Zeit und das anregende Gespräch. Ich denke die wachsende Welt der AVL-Interessierten und Freund*innen (again!) des engagierten Denkens und der Theorie blickt nun mit Spannung auf Ihr nächstes Buch – und nächsten Bücher.
Vielleicht noch eine letzte Frage, mit der wir uns von Ihnen verabschieden und die Antwort auf den Weg mitnehmen können. Was würden Sie sich wünschen für die AVL, für die Zukunft?
ACHIM GEISENHANSLÜKE: Offen bleiben für Theorie, das scheint mir das Gebot der Stunde zu sein. Zwischen Politik und Theorie nicht zu trennen, als sei die Theorie etwas Überflüssiges. Und offen bleiben für Veränderungen.
Wir leben ja in einer anderen Zeit als Szondi in den Sechzigern, und was wichtig ist, das ist, die Stimme der Kritik nicht verebben zu lassen.
Theorie und Kritik, das gehört zusammen, und das sollte auch so bleiben. So schwierig das auch immer sein mag. Und weil es noch immer sehr motivierend ist, für das eigene Arbeiten, aber vor allem natürlich für die Lehre. AVL ist einfach ein tolles Fach, das viel Spaß macht und das auch tun sollte – im Blick auf die Lehrenden wie die Studierenden.
[1] Hannah Arendt. „Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten.“ In Freundschaft in finsteren Zeiten. Von Hannah Arendt mit Erinnerungen von Mary mcCarthy, Alfred Kazin, Jerome Kohn und Richard Bernstein. Herausgegeben und eingeleitet von Matthias Bormuth. Berlin: Matthes & Seitz, 2023.
[2] Ebd., S. 41.
[3] In Death of a Discipline ([2003] 2023) spricht auch Gayatri Chakravorty Spivak von ‚Freundschaft‘, wenn sie Derrida liest, der in Politics of Friendship (1997) Carl Schmitt liest, wendet sich dann aber ‚Kollektivitäten‘ zu, die sie, wie es scheint, als eine Form der Pädagogik auch im Klassenzimmer sucht. Mein Problem mit dem Begriff „Kollektivität“ ist jedoch, dass er, insbesondere in diesen metadigitalen Zeiten, die Vorstellung von und die Ökonomie von ‚Gleichsein‘, von Widerspruchslosigkeit und Einheit erzeugt, während ‚Freundschaft‘, denke ich, eher die Anerkennung, eines ‚Trotzdems‘, von Widersprüchen und Unterschieden als etwas Kostbares und Wertvolles untereinander, in der Freundschaft signalisiert – zwischen Menschen, in der Welt.
[4] Achim Geisenhanslüke, Der Geschmack der Freiheit: Kant und das politisch Unbewusste der Ästhetik. Baden, Baden: Rombach Wissenschaft 2024.
[5] Werner Hamacher (1948–2017) war ein bedeutender, international bekannter Vertreter der AVL sowie der vorherige Inhaber des Lehrstuhls von Achim Geisenhanslüke an der Goethe-Universität Frankfurt.
[6] Siehe etwa Peter Szondi. „Die ‚Hauptseminarprüfung‘ (1967) – A – Fragebogen zur Deutschen, Englischen und Französischen Literatur seit der Renaissance für die erste ‚Hauptseminarprüfung‘“. In Nach Szondi – Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965- 2015. Hrgs. v. Irene Albers, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2015. S. 32-34.
[7] Peter Szondi. Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, [1956] [1963] 2021.
[8] Gregory Jones-Katz. Deconstruction. An American Institution. Chicago, London: The University of Chicago Press 2021.
[9] Peter Szondi. Briefe. Herausgegeben von Christoph König und Thomas Sparr, 2. Auflage 1994, S. 318.
[10] Vgl. Spivak [2003] 2023, S. 5.
[11] Siehe Peter Szondi/Eberhard Lämmert. „Studien zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft (1967). In Nach Szondi – Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965- 2015. Hrgs. v. Irene Albers, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2015. S. 28-31; hier S. 28.
[12] Siehe dazu Achim Geisenhanslüke. Nach der Tragödie: Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderin. München: Wilhelm Fink, 2012, Achim Geisenhanslüke. Am scharfen Ufer: Hölderlin, Frankreich und die Heideggersprache. Paderborn: Brill Fink 2021, Achim Geisenhanslüke. Raue Rhythmen: Friedrich Hölderlins Nachtgesänge. Rombach Wissenschaft: Baden-Baden, 2023.
[13] Vgl. Achim Geisenhanslüke. Das Schibboleth der Psychoanalyse: Freuds Passagen der Schrift. Bielefeld: transcript Verlag 2008.
[14] Vgl. Achim Geisenhanslüke. Foucault und die Literatur: Eine diskurskritische Untersuchung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.
[15] Vgl. dazu die Trilogie zur Infamie: Achim Geisenhanslüke. Die Sprache der Infamie: Literatur und Ehrlosigkeit. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, idem Die Sprache der Infamie II: Literatur und Niedertracht. Paderbon: Wilhelm Fink 2018, idem Die Sprache der Infamie III: Literatur und Scham. Paderbon: Wilhelm Fink 2019.
[16] Siehe dazu Achim Geisenhanslüke. Narben des Geistes: Zur Kritik der Erfahrung nach Hegel. Paderborn: Brill Fink, 2020.
[17] Siehe Werner Hamacher. Für – die Philologie. Basel/Weil am Rhein: Urs Engeler Editor, 2009.